GLITCH

GLITCH

Unser Werkzeug arbeitet mit an unseren Gedanken

Sylvia Eckermann, Thomas Feuerstein, Christina Goestl, Lawrence Abu Hamdan, Gerald Nestler, Axel Stockburger, Szely

Eine Ausstellung der medien.kunst.tirol

18.05. – 29.06.2013

Kunstraum Innsbruck

Eröffnung 17.5

20:00 Begrüßung Karin Pernegger, Kunstraum Innsbruck

Einführung Maximilian Thoman, Medien.Kunst.Tirol

Anschließen:

Christina Goestl / Boris Kopeinig
Shift, Whole Body Experience Fragments [1087 1124 1086 1126 1107 1092]
Audiovisuelle Live Performance

„Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken“ ist ein Zitat von Friedrich Nietzsche aus dem Jahr 1882. Nachdem er seine handschriftlichen Aufschriften mit einer der ersten Schreibmaschinen, der Schreibkugel von Malling Hansen, aufzeichnete, bemerkte er Schreibfehler, die durch die Verwendung des neuen Schreibgerätes in seine Texte gelangten. Die Ausstellung „Glitch – Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken“ widmet sich dieser Frage, wie Werkzeuge Einfluss auf die Kunstproduktion nehmen, bzw. wie der Fehler zum kreativen Prozess wird. Gerade weil die Nutzung unterschiedlichster Medien zur grundlegenden Erfahrung unserer Zeit geworden ist, sind wir mit einer „postmedialen“ Situation konfrontiert, d.h. die Medien gestalten zunehmend unsere individuelle und kollektive Wirklichkeit. In diesem Sinne wirkt sich das Schreibzeug der Medienkunst – universell und omnipräsent – auf alle Formen der künstlerischen Produktion aus. Zusätzlich stellt der Verein Medien.Kunst.Tirol auch die kritische Frage, ob sich die Medienkunst im Auflösungsprozess befindet und in der gegenwärtigen Kunstproduktion noch präsent ist?

Der „Glitch“ bezeichnet in der medial geprägten Alltagswelt jenen Bruch, Störung oder Unschärfe, die sich als technischer Störimpuls manifestiert und beispielsweise in verschwommenen, pixeligen oder verschobenen Bildern auftreten. Der durch diesen Effekt ausgelöste Fehler wurde in der Medienkunst der 1960-90er Jahre produktiv verwertet. Im Unterschied dazu versuchen die Künstler der Ausstellung, solche Glitches nicht im elektronischen Medium selbst zu thematisieren, sondern Ereignisse aufzuspüren, deren ‚Störimpulse’ sich im erweiterten Kontext postmedialer Bedingungen manifestieren. Damit erweitern die ausgestellten Arbeiten den formalen technischen Fehler zum Begriff des „social glitch“, da sie die ökonomischen, sozialen und politischen Bereichen des technologisch-medialen Systems untersuchen. Sie nähern sich aus unterschiedlichen Richtungen sowohl den Verwerfungen als auch den Potentialen, in welchen Glitch, Blur (Unschärfe) und Noise (Rauschen) sozial wirksam werden, wie sie z.B. in Finanzmärkten, Rechtssystemen, Identitätskonstruktionen oder die dem Konsum verpflichtete Konstruktion von Körperbildern gegenwärtig sind. Social glitches können als Brüche im Gewebe unseres Wahrnehmungsvermögens beschrieben werden, dessen verbindende Textur auf medialer Vermittlung beruhen. In diesem Sinne öffnen die Arbeiten den Blick für widerständige Haltungen und Erzählungen, die im Bewusstsein dessen das Denken weiterschreiben und damit das Schreibzeug selbst das vielgestaltige Mittel verstehen, um Kontingenz jenseits von Zufällen produktiv zu machen. Wir erweitern den Horizont unserer Gedankenarbeit, wenn wir nach der Funktionsweise der Medien fragen, deren Medialisierung und Technologisierung vor allem in den sozialen Bereichen der Kommunikation, Gesellschaft und Kontrolle voranschreiten. Damit zeigt sich, dass Störungen nicht nur systemimmanent sind, sondern systemübergreifend wirksam werden (vgl. Thomas Feuerstein). Die algorithmischen Codes, die eine mathematisch-technologische Normalität in gesellschaftliche Beziehungen einführen, entziehen sich nicht nur im Kontext der Störung unserer Kontrolle. Mit der zunehmenden Komplexität von Entscheidungsprozessen, die basierend auf Algorithmen den Menschen in seinem Handeln auslagern, wird der Glitch zum Emblem des Gewöhnlichen, zum alltäglichen Ereignis. (vgl. Gerald Nestler, Axel Stockburger) Anders formuliert wird der Mensch zum Glitch, zum kontingenten, unberechenbaren Störsignal in einer Gedankenwelt, die von algorithmisch-medialer Bot-2-Bot-Kommunikation geschrieben wird.

Hier nimmt Nietzsches Wort von der Mitarbeit unseres Schreibzeugs an unseren Gedanken eine Doppeldeutigkeit an, deren sozial-politische Auswirkungen in vielfältig krisenhafter Weise spürbar werden. Das Überschwappen technologisch-medialer Störungen in erweiterte soziale Räume ist heute, wie wir alle wissen, keine marginale und vernachlässigbare Erscheinung mehr.

Gerald Nestler, Maximilian Thoman (Medien.Kunst.Tirol),

KÜNSTLERISCHE POSITIONEN

Lawrence Abu Hamdan

AURAL CONTRACT: The Freedom of Speech Itself, 2012

Aural Contract ist ein laufendes Projekt, welches aus mehreren Elementen wie Publikationen, Interviews, Performances und Workshops besteht. Im Kunstraum Innsbruck wird The Freedom of Speech Itself präsentiert: Die Geschichte der gegenwärtig kontrovers diskutierten Methoden forensischen Sprachanalyse und Voiceprints, die beide von der britischen Regierung – jedoch bei weitem nicht nur von dieser – zur Kontrolle und Einschätzung der Authentizität von Asylwerbern und ihrer Lebensgeschichten verwendet werden. Dies geschieht durch die Analyse des sprachlichen Akzentes der Person, was nicht selten zu folgenschweren Fehleinschätzungen für die Betroffenen führt – und als Paradebeispiel für einen social glitch dienen kann. Eine Schaumskulptur veranschaulicht zusätzlich die verschiedenen Frequenzen und Amplituden zweier Personen, die beide das Wort „Yes“ aussprechen. Damit erlaubt diese kartographische Technik, ein Bild von Identität und Herkunft zu kondensieren.

Sylvia Eckermann

Crystal Math, 2012, 5000m Nylondraht, 1-Kanal-Video, 5.1 Sound

Mit einem aus tausenden Metern Nylondraht geknüpften Spinnennetz, das als Projektionsfläche und „expressives Sprachbild“ (Sabine Dreher) dient, setzt Sylvia Eckermann die Ablösung menschlicher Akteure auf den Finanzmärkten durch Algorithmen eindrucksvoll ins Bild. Das Netz ist hier nicht der soziale Raum der Kommunikation, sondern die Falle, in der sich die Beute verfängt. Die Mathematik der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird zur Droge eines Orakels, das die vielfältigen Optionen der Zukunft ihren Fiktionen unterwirft. Die Stimme von Simon Streather artikuliert diese Abgründe mittels eines Textes von Gerald Nestler, in dessen Lyrik der Markt zum Finanz-Wesen wird, zur „recombinant Social DNA“. Oh, baby! How you nourish me! Sound: Szely.

Thomas Feuerstein

Banquet, 2012 , Flipper, Kabel

Übersetzung und Transformation von Bedeutungen und Materialität kennzeichnen die Arbeiten von Thomas Feuerstein. In Banquet verschieben sich aus Tafelbild, Literatur, Mythos und Ökonomie bekannte Zeichen- und Ordnungssysteme in den Alltagsgegenstand eines Spielautomaten. Das Werk erinnert an ein Ready-Made, wurde aber in allen Details neu konstruiert: Spieltisch und Kopfaufsatz des Flipperautomaten zeigen eine Schwarz-Weiß-Zeichnung, die durch farbiges Licht erhellt und animiert wird. Die Grafik nimmt auf die Tradition von Weltgerichtsdarstellungen Bezug und verbindet den mythischen Dualismus von Himmel und Hölle mit dem Wechselverhältnis von Herr und Knecht, wie es Gegenstand in Hegels Phänomenologie des Geistes ist. „Der Spielautomat wird zu einer posthistorischen Paradiesmaschine und der Titel Banquet verweist ironisch auf das biblisch-eschatologische Bankett. Schauen, Lesen, Denken verschmelzen im endlosen Bemühen, die Kugel im Spiel zu halten und den paradiesischen Zustand einer „Sweeternity“ zu erreichen.“

Christina Goestl

Shift, Whole Body Experience Fragments [1087 1124 1086 1126 1107 1092], 2013, Audiovisuelle Projektion. Ein Körper wird Akteur. Die Bilder tanzen.

Es werden Bilder vorgestellt, die sich in Bezug auf Alter und Geschlecht an gesellschaftlich und kulturell produzierten Vorstellungen von Körper und Körperlichkeit reiben, sowie visuelle Codes normativer Körper(bild)produktionen unterwandern und neu konfigurieren. Goestl untersucht dominante Repräsentationsstrategie, indem sie Möglichkeiten der Körpermodifizierung erforscht, damit experimentiert und neu erfindet. In diesem Sinne zeigt sie den gängigen Bildern widersprechend neue Alternativen auf.

Gerald Nestler

CARRIER HOTEL, Assemblage aus Video, Sound, Text, Objekten und Neon, 2010-2013

Carrier Hotels sind keine Aufenthaltsorte für Reisende im klassischen Sinne, sondern sind Datenspeicher. Als neuralgische Orte der Finanzindustrie sind ihre Räume, ihre Flure Bandbreiten von Datenkorridoren. Datenpakete verweilen in Zeiträumen von Millisekunden – und damit jenseits menschlicher Wahrnehmung – um mit kürzest möglicher Latenzzeit weiterzureisen. Ein social glitch manifestiert sich hier in einer neuen Dimension von Handlungsmustern, die sich in Algorithmen und Derivatverträgen realisieren. Fragen nach Risiko und Absicherung, Wagnis und Versicherung, Vertrauen und Sicherheiten stellen sich auf einer neuen spekulativen Ebene, deren volatile Ausschläge zwischen den Polen Wahrscheinlichkeit und Kontingenz oszillieren. Die Assemblage versammelt in Form eines symbolischen Hotelzimmers Wahrnehmungen, die die Komplexität dieser Ereignisse ins Bild rücken. Carrier Hotel beherbergt u.a. die Arbeiten: Predatory Glitch, 2010. Live-Audiospur der Ereignisse des Flash Crash als Fanal der Verdrängung menschlicher durch automatisierte Agenten aus dem (Markt)Geschehen. Contingent Claim. Portrait of a Philosophy, 2012. Video mit dem Optionshändler und Philosophen Elie Ayache über eine neue Philosophie der Derivatmärkte, die das Paradigma der Wahrscheinlichkeit durch das der Kontingenz ersetzt. Hot Potato. No risk no fun in the dark pool, 2013. Neontextarbeit, die den Einbruch eines Ereignisses als Gabelung am ‚sozialen Ereignishorizont’ beschreibt.

Axel Stockburger

Fat Finger Confession, 2013 , HD Video, 20 min

Credits: Sprecher: Joseph Remick, Kamera: Lukas Heistinger

Der Begriff fat finger incident stammt aus der Welt der Börse und bezeichnet menschliches Versagen, wie etwa falsche Eingaben auf dem Keyboard, welche starke Preisschwankungen von Aktientiteln auslösen. Ein sehr prominentes Beispiel ist der sogenannte „flash crash“, der am 6.Mai 2010 stattfand und temporär enorme Kursschwankungen an der Börse zur Folge hatte. Während dieser Crash von den Medien zunächst mit einem fat finger Ereignis erklärt wurde, scheint es heute gesichert, dass er tatsächlich von sogenannten „rogue algorithms“, ‚bösartigen’ Computerprogrammen, die beim Hochgeschwindigkeitshandel eingesetzt werden, ausgelöst wurde. Das Video Fat Finger Confession inszeniert ein Interview mit jenem Börsenhändler der sich für diesen historischen Crash verantwortlich zeichnet. Der automatische Börsenhandel hat gegenwärtig derartige Ausmaße angenommen, dass es beinahe beruhigend wirkt, wenn man menschliches Fehlverhalten als Ursache für Störungen annehmen kann. Damit wird der Mensch zum ‚Glitch’ in einem kybernetischen System, das enorme Auswirkungen auf unsere gegenwärtige Lebenswelt hat.

Peter Szely

Chinese Whispers , Bespielbare Klanginstallation, 2013

Spätestens seit John Cages Komposition 4:33 hat das Hören und Verarbeiten von alltäglichen Geräuschwelten Einzug in die klassische Komposition gefunden. Mitte der neunziger Jahre wurde in der elektronischen Musik der Glitch Sound entdeckt und es entstand ein eigenes Musikgerne, die Glitch Music, die im Sinne einer Ästhetik des Scheiterns klangliche Störungen musikalisch verarbeitet. Szely führt diese beiden kompositorischen Ansätze zusammen und erweitert sie durch die Methode des Kinderspiels Stille Post: Chinese Whispers (so die englische Bezeichnung) ist ein ‚Instrument’, auf dem die Besucher spielen können. Die Geräuschkulisse der Stadt Innsbruck wird mittels eines Mikrophons, das auf der Maria-Theresien-Straße platziert ist, zur Fundgrube künstlerischer Praxis. Der Noise, das akusmatische Klangereignis der Stadt, wird durch eine Software geschleust, die es den Besuchern erlaubt, zu ‚Dirigenten’ zu werden, die dieses Signal durch verschiedene Glitch-Effekte verfremden und bearbeiten.