Ansichtssachen

G. J. Lischka (A/CH)

Ansichtssachen

Deine – Meine – Unsere Ansicht

Wie eine Sache angesehen wird, ist zunächst bestimmt eine individuelle Angelegenheit. Jede/r wird anderen gegenüber zugeben, dass es seine Ansichtssache sei, was sie/er von etwas hält. Wir müssen akzeptieren, dass jeder Mensch einmalig, jedem anderen gegenüber different ist. Nehmen wir diese Tatsache für gegeben, erleichtert sie uns, uns selbst ebenfalls als den anderen gegenüber als anderen zu sehen; womit wir die Vielfalt menschlicher Existenz nicht nur erfahren, sondern auch erkennen. „Jeder denkt an sich, nur ich denke an mich“.
Diese Einmaligkeit ist aber auch fragwürdig, wenn wir im gleichen Moment nicht auch wahrhaben wollen, dass das Menschlich-Allzumenschliche uns nicht nur gruppenspezifisch, sondern heute gar global verbindet. Dass die Unterschiede auch im Gleichartigen der Bedürfnisse münden und aus ihnen sich speisen. Differenz und Identität berühren sich ständig.
Somit sind Ansichtssachen zwar individuell, weil jede/r eine andere Sicht der Dinge hat, doch die Sache ist dieselbe. Dabei wird man bemerken, wie schön es ist, wenn wir dieselbe Sicht einer Sache teilen können. Darum geht es in diesem Dialog zwischen Dir und Mir: Wenn sich Gedanken erweitern, fixe Ideen relativieren, wenn das Spiel der Gegenseitigkeit offen ist…,und sich den Regeln der Übereinkunft ohne Zwang fügt, dann sind wir wir selbst durch den anderen.
Ansichtssachen sind in sich widersprüchlich, wenn sie auch als klare Stellungsnahme erscheinen. Denn die Frage bleibt, weshalb gerade welche Ansicht der Sache die richtige sein soll. So bemerken wir, dass Sachen von verschiedenen Seiten betrachtet werden können, und auch, weshalb wir gerade diese und nicht eine andere Sache betrachten.
Wir sind in momentane Bezüge verstrickt, möchten uns aber noch so gerne in Bescheidwissen sonnen. Ansichtssachen sind zeitlich begrenzte Meinungen und Denkmuster, die sich unter diversen Umständen in neue, andere Ansichten verwandeln. Wird tatsächlich Kommunikation gepflegt – was den Fluss der gesellschaftlichen Direktiven bedeutet – so auch Konversation, dann bekommen individuelle Befindlichkeiten die Möglichkeit ihrer Entfaltung. Gefühl und Verstand halten sich gegenseitig in Ballance, wir empfinden uns ausgeglichen.
Vielen Eindrücken sind wir heute ausgesetzt. Viele Apparate wirken auf uns ein. Es kommt dabei darauf an, ob wir in der Umklammerung durch die Medien in der Zapping – Zone uns nicht nur zurecht finden, sondern uns der Angebote der Medien bedienen. Nur gehorsame Konsumenten des Angebots zu sein unterläuft, unsere eigene Entscheidung, welche Ansicht uns zur Einsicht bringt. Deshalb sollten wir darauf achten, die Orientierung nicht zu verlieren und uns unseren Wünschen entsprechend zu orten: zu wissen, wo wir momentan unseren Standpunkt zur Aussicht auf Ansicht haben.

Besichtigungen
Orte sind Haltepunkte im Raum. Orte sind Namen. Und viele Namen haben wir schon oft gehört, bevor wir überhaupt daran denken konnten, diese Namen durch unseren Besuch zu orten. Irgendwie herausragende, berühmte Orte haben eine Anziehungskraft, die uns in Gedanken nicht loslässt, bis wir die Sehnsucht, sie zu sehen, stillen. Uns selber von der Schönheit, Einzigartigkeit etc. von Orten zu überzeugen, ist nichts anderes als Teilnahme an kulturellen Manifestationen, an der Magie von architektonischen und/oder natürlichen Formen, die oft Heiligtümer, prachtvolle, kostbare Bauten oder doch einmalige Gestaltungen sind.
Hatten wir in früheren Zeiten als Nomaden gelebt, sind wir später sesshaft geworden, leben wir heute oft auch als Migranten und Touristen, die millionenfach die Erde umkreisen. Dabei mutet uns die „Lebensreise“ geradezu urtümlich an. Wieviel Zeit wir für sie zur Verfügung haben, ist das Rätsel des Todes. Gibt es viele Gründe, um auf Reisen zu gehen, die Heimfahrt treten wir mit dem Erfahrungsschatz dort gewesen zu sein an, mit der Erweiterung des Horizonts, der Bereicherung der Bekanntschaft mit dem Unbekannten. Keine Fotografie, kein Film kann uns die Präsenz und Einmaligkeit spezieller Orte ersetzen. Sie können uns aber inspirieren, uns dorthin zu begeben und uns später an sie voller Wohlgefühl zu erinnern.

Am Nerv der Zeit

Wir müssen vom Hier und Heute unserer je eigenen Lebenszeit ausgehen. Sind wir auch in die Geschichte und das Gewordene eingebettet, müssen wir uns doch die von uns gewünschten und möglichen Umstände und Zustände selber gestalten. Dabei werden wir immer auf Widerstände und Bestätigungen stossen, die uns zu Überlegungen führen, zu Fragen und Antworten. Zu begreifen, warum was wie funktioniert, ist ein Kernpunkt unseres Daseins. Und die Neugier stachelt unser Interesse, an wenigstens momentan Bescheid zu wissen, etwas begriffen zu haben. Das beste Mittel dazu sind bestimmt Gespräche mit Personen, die in ihren Bereichen viel Erfahrung gesammelt, durch ihr Können Resultate vorzuweisen, in den zur Verfügung steheden Medien Arbeiten veröffentlichen haben.
Diese Persönlichkeiten sind das Rückgrat der Gesellschaft. In welchen Bereichen sie auch tätig sind, uns hat vor allem die Kunst im weitesten Sinne ihrer Interpretation und die Kultur interessiert. Wobei Kultur auch die Zivilisiertheit der Gesellschaft bedeutet; die Fähigkeit, jedem die grösstmögliche Freiheit in Gegenseitigkeit zu gewähren. Die eigene Lebenssituation ins Kollektiv so einzufügen, dass wir auch Anerkennung als Bestätigung unseres Beitrags zur Gesellschaft erhalten. Also einen sinnvollen Teil des Ganzen darzustellen, auch wenn er durch Kritik unhaltbarer Zustände zu stören scheint. Um etwas zu verändern, müssen wir vom Bekannten ausgehen, wissen, wovon wir miteinander sprechen.

Bilder – Ideenträger
An Orten und in Gebäuden sind wiederum Schätze gehortet, die zu sehen ein grosser Genuss sein kann: Ob es Fresken, Mosaiken, Tafelbilder oder Teppiche sind, Statuen, Fenster oder Installationen. Dazu kommen die Fotografien, Film- und Videoprojektionen, die Monitore und Bildschirme, an denen wir uns dem Taumel der Bilder aussetzen/hingeben. In dieser Vielfalt treffen Welten aufeinander, wickelt sich der Kampf der Weltbilder ab, geraten Kitsch und Kunst aneinander, Leere und Fülle. Bilder werden zum Realitätsersatz, zum Ideal, zur Wahrheit, aber auch zum Betrug und zur Lüge. Abstrakte Formen, Ornamente und geometrische Rhythmen treffen auf mythische Erzählungen, religiöse Begebenheiten, Alltagsszenen und Reportagen vom aktuellen Geschehen. Wir navigieren durch die Verdoppelung der Welt in computergenerierten virtuellen Realitäten.
Wir blicken auf Bilder und können von ihnen lernen, weiter und raffinierter zu sehen. Immer mehr Menschen leben in den Städten, die weltweit als Globale Stadt erscheinen. In ihr wuchern Images, Logos und Signale, auch Graffiti fordern nach Aufmerksamkeit. Medien formen unsere Körper mental, wobei Nacktheit zur primären Oberfläche wird. Durch sie hindurch prallen Mikrowelten schroff auf kosmische Makro-Dimensionen in einer orbitalen Ästhetik. Beobachtend sehen wir, wie wir beobachten: Alles ist Show! Kein Spiegel genügt mehr, uns einzufangen, die apparativen Bilder schlucken uns. Schwerlich nur empfinden wir unseren Körper und Geist zwischen Wirklichkeit und Mediatisierung unterschieden.

Medien: Kunst

Schlucken die Medien die Realität und werfen sie uns durch den Apparatezauber wiederum als Reality entgegen, so wird diese zur Allgegenwart vieler Realitäten. Was jedoch nichts mit unserer je eigenen Wirklichkeit zu tun hat – höchstens in dem Sinne, dass wir unsere wirklichen Begehren zu einem grossen Teil aus der Reality speisen. Die Medien sind Mittel der Kommunikation, also der Mitteilung zwischen Dir und Mir, zwischen Uns. Die Kommunikation ist der reissende Strom von Informationen rund um den Globus, und sie muss den spezifischen Codes entsprechend decodiert werden oder überhaupt beachtet werden. Man kann auch sagen, die Kommunikation sei ein Meer, das uns umbrandet und vor dem wir uns in individueller Distanz halten sollten, um nicht in ihm unterzugehen.
Die Metapher vom Meer deutet auf die gewaltige Natur hin. Und das ist die Gefahr, die in den Medien auch verborgen ist, ihr Naturalismus. So zu tun, als wären sie die Natur, wobei sie doch einen kulturellen Status darstellen. Einen Status, der bereits sehr weit von dem, was wir als natürlich bezeichnen, entfernt sein kann: der sowohl für als auch gegen uns sich richten kann. In der Bestimmung „für uns“ kommt uns die Kunst zu Hilfe. Auch die Kunst bedient sich der Medien, sowohl der „einfachen“ Alten Medien wie auch der apparativen Neuen Medien. Da ihre Codierung aber nicht am Prinzip des Nutzens ausgerichtet ist, kann sie uns als Regulatorin der Realität und Verwalterin der Rätsel des Lebens dienen. Im Unterschied zur scheinbaren Natur der Massenmedien bietet die Kunst die Garantie, die Realität unseres Lebens darzustellen, was wir uns aber individuell in ihrer Rezeption und Produktion aneignen müssen.

Bekanntschaften

Sich selbst ins Spiel zu bringen, um mit den anderen Kontakte zu knüpfen, ermöglicht in einem offenen Sinne die Kunst. Auf jeden Fall gibt sie uns die Möglichkeit, das weite Feld der Phantasie zu erkunden und über sie wiederum mit phantasievollen Leuten in Beziehung zu geraten. Das heisst aber nicht, dass nicht alle Bereiche des Lebens den Ausgangspunkt für interessante Begegnungen darstellen können. Ja gerade das Wechselspiel zwischen den verschiedenen Interessen ist es, welches der Nährboden der Kunst ist, das, was sie verarbeitet. Weil heute der Auftrag an die Kunst nicht mehr von der Kirche oder vom Adel erteilt wird, sondern von den Kunstschaffenden selbst definiert werden muss, kommt die Kunst von ihren Randzonen, dem Leben in all seinen Facetten.
Der Umgang mit Kunst ist nicht nur ein gewaltiger Geschmacksverstärker und ein erotischer Funken, er ist auch ein Weg zur Erkenntnis, die sich aus Verstand und Gefühl mischt. Sind die Meinung, das Wissen und der Glauben eine bekannte Trias der Wertung von Erkenntnis, sind sie unter der Ägide der Kunst – als offener Form – vereint die sinnlichste Art der Wahrnehmung; auch wegen der ihr inhärenten Reziprozität. Ist heute von Demokratie die Rede, so bedeutet sie die Nivellierung unserer Subjektivität auf den allgemeinsten Nenner. Halten wir uns jenseits des Mythos von der Demokratie (die ja schön wäre) an die Kunst, können wir uns tatsächlich individuell in ein Netz von Beziehungen einbringen, am besten im Rahmen der Freiheit der Kunst. Es scheint, dass dieser mentale Rahmen der Rahmung uns am ehesten unseren eigenen Willen belässt und fördert.

Archiv

Ist ein Bild fertig, bekommt es meistens einen Rahmen. Sind Texte abgeschlossen, packt man sie gerne zwischen zwei Deckel als Buch. Ist eine Skulptur gelungen, kommt sie auf einen Sockel, erhält auf einem Platz die richtige Wirkung. Ist ein Gegenstand von besonderem Wert, stellt man ihn im Museum aus. Diese Würdigung ist das Herausheben vom Üblichen, der Beginn der Archivierung und Geschichte. Auch der Tod der Gedanken und Vorstellungen, die in einem Medium ihre Form gefunden haben. Doch dieses Beiseitestellen aus den Aktivitäten des Alltags ist auch ein neues Leben in den Medien und durch die Medien. Wir machen Bekanntschaft mit Unbekannten, die uns medial bekannt werden und begleiten. Freundschaften mit diesen unbekannten Bekanntschaften können ein Leben lang dauern und, ohne sich in die Quere zu kommen, intensiv sein.
Deshalb sammeln wir nicht nur unsere eigenen Gedanken, wir vergleichen sie auch mit denen, die sich schon lange bewährt haben oder aktuell den Ton angeben. Wir suchen Lösungen zu finden, die akzeptiert oder negiert werden. Ob unsere Ideen Erfolg haben, wissen die anderen. Wahrgenommen zu werden, ist bestimmt ein Grundzug von allem, was produziert wird. Das Wahrgenommene muss dabei nicht einfach zu verstehen sein: der Reiz liegt oft gerade auch im Hermetischen, in der Suche. Denn den Sinn, die Wahrheit – ausser von banalen Dingen – zu kennen, wird uns vielleicht nie gelingen. Aber wenigstens den Versuch können wir für uns unternehmen, ohne anderen etwas aufzuzwingen, in der Vielheit der Konstellationen immer wieder die Lust am Leben zu schüren. Mit Einsichten bei der Ansicht von Sachen, in die wir uns momentan in Gedanken verloren haben.

G.J.Lischka